Wenn es um gutes Essen geht, soll alles neu und aufregend schmecken, zugleich aber genau so, wie man es seit jeher kennt. Das Neue soll so wie das Alte sein, nur eben doch anders und vor allem besser. Das ist eine schwierige Formel, die aber schließlich doch erfüllbar ist.
Wie man sich im Kreis aus dem Kreis heraus bewegen kann, zeigt das Bauchgefühl, also das Schmecken mit Magen und Darm. Die Verdauung kann weder süß, noch sauer oder bitter schmecken. Aber es gibt einen zweiten Geschmack, der etwa bei einer Schlachtplatte mit ihren Würsten, Sauerkraut und Kartoffeln ein tiefes Behagen des Magens mit sich bringt. Magen und Darm sind empfindliche Gebilde und werden nicht nur mit Wurst und Kraut gefüllt, sondern werden selbst auch leicht zu Gefühlsräumen.
Die inwendige Wurst führt zu einem besonderen Geschmack: im Magen entsteht die Lust, dass man sich mag, bloß weil man sich spürt. Umgekehrt kennt man das von warmen und abgestandenen Bier. Die „kranke“ Flüssigkeit füllt dann den Magen mit einem flauen Gefühl als durchdringendes Unbehagen. Vom Bauch aus wird dann der ganze Körper mit der schlechten Laune angesteckt – beim Warmbier mit Verdruss und Unbehagen, bei der Schlachtplatte mit Leichtigkeit, Weite und der Lust am Sosein.
Statt der Wurstparade kann man auch das koreanisches Sauerkraut Kimchi essen und dasselbe Bauchgefühl erleben. Es besteht darin, sich zu mögen, bloß weil man seinen Magen spürt. Ausbauchen heißt also, sich zur gehobenen Tatsache zu machen. Diese Tatsache ist ganz einfach der eigene Körper, der wohl immer da ist, aber nur selten allein deswegen Freude bereitet, weil man ihn empfindet. Kimchi oder die inwendigen Würste bringen ihn au ein neues Niveau. Das Fasten macht das übrigens auch, so dass man eine kühle Euphorie entwickelt. Nach drei Tagen kreatürlichen Unbehagens gerät man in dieses Hochland, das in einen Rausch der Nüchternheit führt. In Magen und Darm liegt dann eine nüchterne Euphorie, die so stark ist, auch noch in hintersten Winkel des Körpers auszustrahlen.
Geht es nun also darum, dasselbe ganz anders zu erleben, so hilft das Bauchgefühl weiter. Denn sehr unterschiedliche Speisen führen zum selben Ziel: zur Lust am Ausbauchen. Weite, Leichtigkeit und Daseinslust sind in der Schlachtplatte, im Pot-au-Feu, im Müsli und im Fasten gleichermaßen zu finden, obwohl sie denkbar unterschiedlich schmecken. Der Geschmack im Mund ist also eine Sache, der im Bauch eine ganz andere und bringt einen schmackhaften Zusammenhang auf. Wer gerne Blutwurst mag, der kommt von ihr höchstens zum Pot-au-Feu, dann aber nicht mehr weiter. Wer gerne fastet, wird umgekehrt gerade mal zum Müsli kommen und dasselbe Ausbauchen, was ihm so sehr beim Fasten gefällt, in der Schlachtplatte unbeachtet lassen. Wer aber die Formel vom Ausbauchen besitzt, der wird sich vom Schmecken leiten lassen und dasselbe im ganz Anderen wiederfinden.
Das Altbekannte im Neuen besteht dann in der Lust am Bauchgefühl. Sie steckt dabei gar nicht im fertigen Essen, so wie es dampfend auf dem Tisch steht, sondern in dem, was der Magen daraus macht. Die entscheidende Zutat steckt also im Schmecken selbst und nicht sosehr im Kochen. Deswegen braucht es auch ein Schmeckbuch und kein Kochbuch. Wenn sich nämlich vom Schmecken leiten lässt, geht von der Sinnlichkeit aus, die von Nase, Mund, Zunge, Kopf und Bauch hinzugefügt wird.
Das zeigt sich auch, wenn man sich an seine Lieblingsmarmelade aus der Perspektive des Schmeckens heran macht. Die Marmelade soll so zuverlässig wie immer schmecken, zugleich aber auch aufregend neu. Das lässt sich machen, entdeckt man die entscheidende Zutat für das Bekannte im Unbekannten. Bei einer Brombeer-Holunder-Marmelade ist es weder die gezuckerte Brombeere, noch der Holunder, die den Ausschlag geben. Es ist der feine und unnachahmliche Übergang von der Brombeere zum Holunder. Das Durchblenden von einer Frucht zur anderen macht den Unterschied aus und ist die Schlüsselzutat.
Denn mit ihr kann man die Zutaten austauschen und doch beim Alten bleiben. Erdbeere und Rhabarber blenden nämlich so gut wie Brombeere und Holunder durch und schmecken so auf bekannte Weise neu. Dasselbe kann man bei Erdbeere und Vanille erleben, wo es wieder das Einsetzen und Überblenden der Aromen ist, was den Ausschlag gibt. Probiert man auf die Weise viele Marmeladen durch, wird man am Ende mehr als eine Lieblingsmarmelade haben.
Innerhalb der Marmelade ist man geschmacklich beweglich geworden, weil man die entscheidende Zutat nicht mehr im Glas oder auf dem Etikett sucht, sondern im Schmecken selbst. Ist man mal so weit gekommen, dann kann man das Alte, das ganz neu ist, im Senf entdecken, auch im Essig, der gar nicht eindimensional nach Essiggeist schmecken muss und natürlich beim Wein, der das Durchblenden zum Prinzip macht. Der Wein, der Eintopf, die Minestrone, die Bouillabaisse und das Weißbier sind dann in einer Zutat vereint und machen es leicht, immer beim Alten zu bleiben und so zum Neuen zu kommen.
Der Geschmack wird selber zum Rezept. Er wird zur Zutat und durchbricht die übliche Phantasielosigkeit, hat man einmal den richtigen Dreh heraus. Durchblenden und Ausbauchen sind solche Schlüssel, die eigentlich nicht neu sind, aber das Unbekannte erschließen. Dasselbe gilt für die Polyphonie, also für die Mehrstimmigkeit, für süß, sauer, bitter und umami. Das Buch wird diese Geschmäcker nach und nach aufnehmen und den eigenen Geschmackshorizont erweitern.
Dabei bleiben wir nicht immer im Alten, sondern betreten auch Neuland. Wirklich neu ist so etwa die Zutat der Geschmacksverschmelzung. In ihr vermischen sich zwei oder mehr Geschmacksrichtungen nicht, sondern tauschen untereinander Eigenschaften aus, so dass ein neuer Geschmack dabei herauskommt. Aus Salz und Zitrone wird so die Salzzitrone, bei der salzig und sauer miteinander ins Geschäft kommen und eine neue Geschmacksdimension bilden. Es ist so wie in der Musik, wo in der Oktave zwei Töne so miteinander verschmelzen, dass sie einen neuen Ton zu bilden. Sie verwischen nicht ineinander, sondern bilden eine Summe, die größer als ihre Einzelteile ist.
Salz auf einer Zitronenscheibe schmeckt nicht gut, aber in Salz eingelegte Zitronen, die drei Monate im dunklen Küchenschrank durchziehen konnten, verschmilzt sauer und salzig miteinander und gibt im Rindfleischeintopf gerne von seiner Geschmackskreation ab. Das Resultat ist ein feines Spiel zwischen salzig und sauer, vom Gemüse und vom Fleisch aufgenommen und gut herausgebracht.
Was in der marokkanischen und persischen Küche selbstverständlich ist, das ist für uns unbekannt oder nur Randbezirk. Einmal auf den Geschmack gekommen, kann man von der Salzzitrone weitergehen und auch süß und sauer entdecken. Rhabarber, Zucker und Erdbeere ergibt ebenfalls keinen bloß angenehmen Gesamtgeschmack, sondern eine Verschmelzung von süß und sauer. Ganz ähnlich ist der Granatapfel fusionsbereit mit dem Süßen.
Hat man einmal den Geschmack der Verschmelzung von salzig und sauer oder süß entdeckt und weiß, was da so gut schmeckt, hat man ein neues Geschmacksbild, von dem aus man ganz ferne Dinge entdecken kann. Die japanische Umeboshi-Aprikose, unreif geerntet und in Salzlake fermentiert, fusioniert den Geschmack von Bittermandel mit sauer und salzig. Wer jetzt das Geschmacksbild von der Verschmelzung besitzt, der kann sich ohne Umwege den Geschmack der Salzaprikose erschließen. Wer ihn nicht hat, wird schwer auf den Geschmack kommen. Voraussetzung ist also, die Zutat der Geschmacksverschmelzung schon in sich zu tragen und die exotische Aprikose sofort von innen heraus zu verstehen.
Bei der Gastrosophie handelt sich also um kein Kochbuch, sondern um ein Schmeckbuch, das den Vielschmecker zum Feinschmecker macht. Die Idee dazu ist einfach: Mund, Nase, Bauch und Kopf machen aus dem Essen erst den Geschmack und fügen die Schlüsselzutaten im Schmecken hinzu. Diese Zutaten stehen in keinem Kochbuch und werden nur am Rande erwähnt.
Der zweite Geschmack steckt beispielsweise nicht im Essen und wird nicht vom Koch hinein gezaubert, sondern vom Magen. Wenn wir einmal das Ausbauchen als Zutat entdeckt haben, können wir vom Schmecken ausgehen und mit diesem Geschmacksbild dasselbe im ganz Neuen entdecken. Wir haben dann Lust an die Schlachtplatte, das Müsli und das Fasten ranzugehen, weil derselbe Geschmack in ganz unterschiedlichen Konstellationen zu finden ist.
Wir werden in all den Rezepten und Kochbüchern beweglich und müssen nicht mehr aufs schmackhafte Foto vom Essen schauen, um unseren Gusto zu entwickeln. Durchblenden, Ausbauchen, Vielstimmigkeit, Geschmacksverschmelzung, Durchstimmung, Schmackhaftigkeit, salzig, süß, sauer, fettig etc. lassen sich so neu vom Schmecken her bestimmen. All das schmeckt erst nach etwas, wenn wir etwas daraus machen und selber noch Zutaten im Schmecken hinzufügen. Die Aussichten sind dann ganz erfreulich, wenn wir vom anderen Ende ans Kochen herangehen und uns vom Schmecken leiten lassen.
Gastronomie und Philosophie lassen sich in der Gastrosophie zusammenbringen. Sie ist als Gustosophie eine Philosophie des Schmeckens.
Die gastrosophischen Veranstaltungen vereinen Verkostung und philosophischen Vortrag in einem. Es handelt sich um Symposien, um gemeinsames, geselliges Trinken und Essen.
Was dabei jeweils abstrakt als Prinzip des Schmeckens vorgestellt wird, das gibt es anschließend als Verkostungshappen sinnlich zu erleben. Was im Moment vorher also noch Begriff war, reine These, wird wenig später geschmeckt und damit bestätigt, verworfen oder neu ausgerichtet.
Im Bereich der „Qualität in der Pflege“ (APH, Hospizeinrichtungen) geht es dabei um die Vermittlung von elementaren gustatorischen Erlebnisqualitäten. Die Menschen in der Pflege sollen nicht nur materiell versorgt werden, sondern auch lebendige Lustmomente beim Essen und Trinken haben können.
Die gastrosophischen Abende richten sich dagegen an Menschen, die gerne gut Essen und dabei über das klassische Kochbuchwissen hinaus kommen wollen. Es handelt sich dabei um Zirkelverkostungen mit einem abschließendem Essen.
Ein gastrosophischer Abend hat jeweils ein spezifisches Thema, also z.B. das bittere Schmecken, das Salzige, das Erdige etc. Auch werden Konzepte wie die zeitliche Entfaltung des Schmeckens im Mund (Zeitigung der Zeit) oder die Verschmelzung verschiedener Geschmacksträger zu einem Superplus zum Verstehen und Schmecken gebracht.
Broschüre zu den Inhalten des Seminars.
Auf Anfrage.